Die Realität eines zweiten Tschernobyls hat uns auf furchtbare Weise eingeholt – vor 4 Monaten ereignete sich im japanischen Fukushima der nächste, in seinen Folgen noch nicht absehbare Unfall in einer Atomanlage.
Aus den Schlagzeilen unserer Zeitungen ist Fuskushima verschwunden, obwohl das nukleare Grauen dort noch lange nicht gebannt ist. Die Atomindustrie in Japan versucht durch eine Mischung aus Vertuschung, Fehlinformation und Bagatellisierung die Akzeptanz für die AKWs in der Bevölkerung zu retten – mit seinen 54 AKWs ist Japan abhängig von den Atomkonzernen. Ähnlich wie bei uns bestimmen diese aufgrund ihrer wirtschaftlichen Macht die politische Struktur und insbesondere die politischen Entscheidungen der japanischen Regierung.
Unabhängige Informationen tun Not – in Japan, aber auch bei uns.
Wir wissen heute, dass es im März vier große Atomhavarien im Atomkomplex in Fukushima gegeben hat. In einem kürzlich der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Protokoll der 16. Sitzung der japanischen Atomkommission vom 24.5. wird das Ausmaß der Katastrophe allmählich deutlich:
Erstmals wird protokolliert, daß am 14.3. um 18.22 Uhr Ortszeit...“.der Ausstoß des gesamten Reaktorinventars des Reaktorblocks 2 erfolgte“ – mit nachfolgendem typischen Anstieg der radioaktiven Ortsdosisleistungen. Es handelt sich also nicht um sogenannte Teilkernschmelzen, welche die japanischen Betreiber bisher nur eingeräumt haben, sondern um den Super-Gau im Block 2 schlechthin. In den Blöcken 1, 3 und 4 ist es, aufgrund der bisherigen Informationen, mindestens zu Teil-Kernschmelzen gekommen.
Ausländische Organisationen/Regierungen haben aufgrund eigener Radioaktivitäts-Messungen diese Dramatik bereits früh vermutet – sie erinnern sich: Ein amerikanischer Flugzeugträger kehrte im März aufgrund eigener hoher Meßwerte kurz vor der Küste Japans um und unterbrach seine ursprünglich geplante Hilfsmission. In der 16. Sitzung der jap. Atomkomission werden nun Werte und Größenordnungen der radioaktiven Bodenkontamination öffentlich:
Ein Gebiet von mindestens 700 km² ist mit Werten zwischen 555.000 und 1,4 Millionen Bq/m² Cäsium-137 belastet, mindestens 600 km² mit Werten über 1,47 Millionen Bq/m². Damit wäre die verstrahlte Fläche in Japan um den Faktor 10 kleiner als in Tschernobyl. Aber stimmt das? Kann das überhaupt stimmen?
Unabhängige Wissenschaftler halten das jetzt eingeräumte Ausmaß der radioaktiven Verstrahlung für eine Untertreibung: Bei kürzlich bekannt gewordenen Messungen in der Zeit vom 17.- 20 Juni an mehr als 500 Orten deutet sich an, dass die Kontamination auch noch 60 km von Fukushima entfernt teilweise doppelt so hoch ist wie am Randes des eingerichteten Sperrgebietes. Aber wenigstens wird nun von der Atomkommission explizit eingeräumt, dass vergleichbare Strahlenwerte wie in Tschernobyl vorliegen.
In Tschernobyl wurden Zonen ab einer Ortsdosis von 1,47 Millionen Bq/m² Cäsium evakuiert. In Gegenden mit Werten bis 555.000 Bq/m² bestand ein allgemeines Verbot der Lebensmittelproduktion und es wurden nach und nach Dekontaminationsmaßnahmen durchgeführt. Casium137 hat eine HWZ von 30 Jahren! Es dauert also 7 Halbwertszeiten (also 210 Jahre), bis sich die Menge an radioaktivem Cäsium auf weniger als 1% verringert hat.
Die bevorstehenden Folgen für die japanische Bevölkerung können wir aus den vorliegenden Gesundheitsdaten um Tschernobyl ablesen: In Belastungsgebieten von 555.000 Bq/m² und darüber sind 8 von 10 der nachgeborenen Kinder der dort lebenden Bevölkerung heute, 25 Jahre nach dem Unfall in Tschernobyl, nicht mehr gesund. Das ist den Studien der russischen, weißrussischen und ukrainischen Ärzte zu entnehmen. Tschernobyl ist eine Blaupause für das, was Japan in den nächsten Jahrzehnten erwartet.
Tatsächlich hat Japan noch „Glück“ gehabt, da ein Großteil des radioaktiven Fall-outs über den Pazifik abregnete und damit nicht das Land kontaminierte. Andererseits ist die Situation in Fukushima jedoch wesentlich gefährlicher, da die Menge des radioaktiven Inventars in den havarierten Reaktoren um ein Vielfaches höher liegt als in Tschernobyl. Auch ist die Bevölkerungszahl in Japan in den betroffenen Gebieten um ca. 20-fach höher als um Tschernobyl.
Durch das stark kontaminierte Kühlwasser, das zu Hunderten von Tonnen in das Meer floss, sind die Folgen für die Meeresökologie und die Ernährung der Menschen mit Meeresfrüchten nicht abzusehen - und die Kühlung der havarierten Reaktoren ist weiter technisch schwierig und störanfällig. Und das nächste Erdbeben steht Japan bevor. Die Wissenschaftler erwarten ja noch „das ganz große Erdbeben“, dessen Vorläufer die bisherigen erst waren.
Statt den Schutz der Gesundheit der Bürgerinnen zu konkretisieren, sind während dieser 16. Sitzung der Atomkommission sogenannten „Optimierungen der Grenzwerte“ diskutiert worden – dahinter verbirgt sich der durchsichtige Versuch, die radioaktive Kontamination zu relativieren und zu bagatellisieren. Dies erfolgt mit dem Ziel, die Evakuierungen wieder aufheben zu können. Im Wortlaut wird die dahinter liegende Absicht der Kommission deutlich: Es geht um die „Rehabilitierung“ der Atomindustrie in Japan – nicht um den Schutz der Bevölkerung.
Deshalb wird für japanische Kinder nun offiziell eine so hohe Strahlungsdosis akzeptiert, wie sie bei uns nur für beruflich Strahlenexponierte gilt.
Und wieder sind es die betroffenen Mütter, die sich nun auch in Japan zu wehren beginnen. Sie haben das Projekt 47 begonnen – dessen Ziel: In allen 47 Präfekturen Japans wollen sie unabhängige Meßstellen für Bürger einrichten, weil sie den offiziellen Verlautbarungen über Strahlungswerte keinen Glauben mehr schenken. Das macht Mut!
- (Artikel aus dem neckarwestheimer anti-atom-info 50)
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