TAZ, 01.12.06

> AKW im Blindflug
> Materialermüdung wird in Neckarwestheim nur noch berechnet. Die Materialproben wurden entfernt

HEIMERTINGEN taz Im Atomkraftwerk Neckarwestheim wird künftig vollständig
auf Materialproben in unmittelbarer Nähe des Reaktorkerns verzichtet. Die
wurden bislang eingesetzt, um mögliche Materialermüdungen diagnostizieren
zu können. Der Betreiber begründet den Schritt damit, dass nun genug
Daten vorlägen, um weit über die Lebenszeit der Reaktorblöcke hinaus die
Materialermüdung berechnen zu können. Die Bürgerinitiativen Mittlerer
Neckar und das Aktionsbündnis Castor-Widerstand Neckarwestheim
vermeldeten gestern, dass jetzt die erforderlichen Prüfungen, wie weit
die Versprödung des Reaktorbehälters fortgeschritten ist, nicht mehr
vorgenommen werden. "Das heißt im Klartext, tatsächliche
Werkstoffkontrollen kann es künftig nicht mehr geben, nur noch
statistische Wahrscheinlichkeitsberechnungen", sagte Jörg Schmid vom Bund
der Bürgerinitiativen.

Die letzten Materialproben wurden im Reaktorblock II im Frühsommer
entfernt. Im Reaktorblock I hängen sie bereits seit 1984 nicht mehr. Die
AKW-Gegner sprachen hier von einem "erheblichen Sicherheitsdefizit".

Sprecher des baden-württembergischen Umweltministeriums und des
Betreibers Energie Baden-Württemberg (EnBW) wiesen die Vorwürfe zurück.
EnBw-Sprecher Ulrich Schröder sagte der taz, dass die Proben einen sehr
genauen Blick in die Zukunft zulassen. Die kernnahen Materialproben, die
aus dem gleichen Material wie der Reaktordruckbehälter seien, seien einer
extrem hohen Strahlenbelastung ausgesetzt worden, die rechnerisch im
Reaktor I einem Strahlenbeschuss am Rand des Reaktorbehälters von 70
Jahren entspräche, im Block II sogar von 120 Jahren. Ministeriumssprecher
Karl Franz sagte, bei der Materialforschung, wie sie derzeit betrieben
werde, könne man einen viel längeren Zeitraum vorausschauen, als ein
Reaktor je in Betrieb sei. "Ein weiterer Beschuss ist nicht
erforderlich."

Die Atomgegner sehen das ganz anders. Sie sagen, das AKW Neckarwestheim
werde ohne einen Abgleich der rechnerischen Ermüdungsdaten mit
tatsächlichen Proben "im Blindflug" betrieben. Es müsse weiterhin eine
echte Materialprüfung geben. Die sei ohne die Proben aber gar nicht mehr
möglich. Die von der EnBW anvisierte Laufzeitverlängerung für
Neckarwestheim sei unter diesen Umständen unverantwortlich. KLAUS
WITTMANN

>>

Stuttgarter Zeitung, 01.12.06

> Atomkritiker sehen neues Risiko in Neckarwestheim

Beide Blöcke des Kraftwerks werden ohne Materialproben gefahren-
Initiativen kündigen Proteste gegen längere Laufzeit an

LUDWIGSBURG. Bürgerinitiativen behaupten, das Neckarwestheimer
Kernkraftwerk werde "im Blindflug" gefahren. Der Zustand beider
Reaktorbehälter sei nicht mehr überprüfbar. Das Umweltministerium und der
Betreiber widersprechen entschieden.

Von Ralph Gunther Zimmermann

Die Reaktordruckbehälter von Kernkraftwerken sind enormen Belastungen
durch radioaktive Strahlung, wechselnde Temperaturen und
unterschiedlichen Druck ausgesetzt. Um sicherzustellen, dass die Behälter
auch bei Störfällen keine Radioaktivität freisetzen, sind beim
Betriebsbeginn Werkstoffprobesätze in den Druckbehältern angebracht
worden. Diese bestehen aus demselben Material und sind zur gleichen Zeit
und vom selben Hersteller gefertigt worden wie die Wände des
Druckbehälters. Weil die Probensätze aber näher am Kern des Reaktors
angebracht wurden, sind sie einer stärkeren Bestrahlung durch Neutronen
ausgesetzt. Damit wird gewissermaßen im Zeitraffertempo die Belastung des
Druckbehälters vorweggenommen. Am Zustand der Proben soll sich somit im
Voraus erkennen lassen, wie lange mindestens die Reaktorhülle standhält.

Die Umweltministerin Tanja Gönner, deren Ministerium die Aufsicht über
die Kernkraftwerke führt, hat jetzt auf eine Anfrage des grünen
Landtagsabgeordneten Franz Untersteller hin bestätigt, dass sich in der
Anlage in Neckarwestheim (Kreis Heilbronn) keine solchen Probensätze mehr
befinden. Im neueren Block II seien die letzten Proben in diesem Jahr
entfernt worden, beim Block I sei dies bereits 1984 geschehen.

Damit seien keine auf praktischer Erprobung basierende Aussagen über den
Zustand der Reaktorwände mehr möglich, meint der Bund der
Bürgerinitiativen mittlerer Neckar. Stattdessen müsse sich die Ministerin
jetzt auf lediglich errechnete Prognosen verlassen. Dies aber komme einem
"Blindflug" der Anlagen gleich. Besonders bedenklich ist dies aus Sicht
der Bürgerinitiativen beim Block I, wo die letzte Materialauswertung
bereits mehr als 20 Jahre zurückliegen soll.

Seit damals habe sich zudem die Technik der Materialprüfung weiter
entwickelt, sagt Wolfgang Neumann von der kernkraftkritischen Gruppe
Ökologie aus Hannover. Die Materialproben im Block I seien zudem mit
einer weit höheren Neutronendosis belastet worden als der Druckbehälter,
die dadurch gewonnenen Aussagen seien damit nur eingeschränkt
aussagekräftig. Im Grundsatz gelte, je langfristiger die auf Grund der
Proben gewonnenen Prognosen seien, desto weniger zuverlässig seien sie,
meint der Physiker.

Die EnBW als Betreiber weist diese Kritik zurück. So zeige eine fast 50-
jährige Erfahrung, dass eine kurzzeitige Belastung mit einer hohen
Neutronendosis das Material sogar stärker schädige als die gleiche
Neutronenmenge, die über einen längeren Zeitraum hinweg auf die Wände des
Druckbehälters treffe. Die Verfahren zur Materialprüfung hätten sich
nicht verändert, die für den Block I ermittelten Werte seien weiterhin
gültig, betont die EnBW. Ohnehin verfüge man über eine große
Sicherheitsmarge. Die Auswertung der Proben hat der Umweltministerin
zufolge ergeben, dass der Block I des Kernkraftwerks für 70, der Block II
gar für 120 "Volllastjahre" sicher sei.

Der Bietigheimer Grünenabgeordnete Untersteller hält diese Hochrechnungen
für absurd, den Betrieb der Reaktoren ohne Materialproben für seltsam.
Die Erfahrungen am still gelegten Reaktor Obrigheim weckten Zweifel an
der Zuverlässigkeit der Prognosen über den Zustand des Reaktorbehälters.
Unabhängig davon hält der Grüne eine längere Laufzeit für den Block I des
Kraftwerks für nicht vertretbar, weil bei älteren Reaktoren die
Sicherheitsrisiken stiegen. Die Bürgerinitiativen bewerten die fehlenden
Materialproben als weiteren Beleg dafür, dass eine Laufzeitverlängerung
für Neckarwestheim I nicht vertretbar sei. Die EnBW hat einen
entsprechenden Antrag noch für dieses Jahr angekündigt. Eigentlich sollte
der Reaktor spätestens in drei Jahren still gelegt werden. Für den Fall
einer Laufzeitverlängerung haben die Bürgerinitiativen Proteste
angekündigt.

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Info-tel 07141 / 903363
http://neckarwestheim.antiatom.net



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