Wiesbadener Kurier, 26.04.
"Das ist unser Frühlingserwachen"
Von Christoph Risch
BIBLIS Unerwartet große Menge der Demonstranten sorgt in der Anti-Atomkraft-Bewegung
für Aufbruchgefühle
10 000 Teilnehmer, wie die Polizei sagt, oder 20 000, wie die Veranstalter behaupten? Egal:
Es kamen auf jeden Fall sehr viel mehr Menschen als erwartet nach Biblis, um zwei Tage vor
dem 24. Jahrestag der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl gegen die Atomkraft zu
demonstrieren. Aufgerufen hatten dazu zahlreiche Anti-Atomkraft-Initiativen aus
Süddeutschland. Dass so viele kamen, ist für Matthias Weyland vom Bund für Umwelt und
Naturschutz angesichts der aktuellen Debatte um den Ausstieg vom Atomausstieg kein
Wunder: "Die Bevölkerung ist die Trickserei der Betreiber und der Politik leid, die Wut ist
enorm."
Volksfeststimmung
Die Stimmung auf dem großen Parkplatz direkt vor dem Eingang zum Atomkraftwerk glich
dennoch eher der eines Volksfestes als einer Protestaktion. Die Nutzung des Parkplatzes
war vom Unternehmen geduldet worden. Bis auf einige Rauchfackeln, die abgebrannt
wurden, blieb die Aktion absolut friedlich. Befürchtungen, Aktivisten des "Schwarzen Blocks"
könnten die Demonstration für Randale nutzen, bewahrheiteten sich jedenfalls nicht.
Polizeisprecher Karlheinz Treusch: "Keine besonderen Zwischenfälle." Dabei war die Polizei
auf alle Möglichkeiten vorbereitet: Zahlreiche Polizisten hatten sich rund um das
Atomkraftwerk verteilt - die genaue Zahl wollte Treusch nicht nennen.
Weil das Gelände weiträumig für den Pkw-Verkehr abgesperrt war, mussten die mit Bussen
und einem Sonderzug angereisten Demonstranten lange Fußmärsche im Kauf nehmen.
Manche kamen so spät, dass sie die vier kurzen Reden gar nicht mehr erlebten.
Vertreter von SPD und Grünen, darunter die rheinland-pfälzische Umweltministerin Margit
Conrad (SPD) und der hessische SPD-Vorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel sowie die
hessischen Grünen-Vorsitzenden Kordula Schulz-Asche und Tarek Al-Wazir, mussten sich
von dem Wiesbadener Atomkraftgegner Michael Wilk vorwerfen lassen ihre Parteien seien
wegen des Atomkompromisses mit Schuld daran, dass die Atomkraftwerke noch immer am
Netz seien. Die Linken, ebenfalls angereist, waren von der allgemeinen
Politikerbeschimpfung ausgenommen. Die Kraftwerksbetreiber nannte Wilk Kriminelle, was
sie täten, sei Körperverletzung.
Trotz aller scharfen Worte: Auch die "Umzingelung" des Kraftwerks verlief ohne
Zwischenfälle. Die vier Kilometer lange Strecke konnte wegen der Menschenmenge ohne
Not vollständig besetzt werden. Das anschließende "Die in", bei dem sich die
Atomkraftgegner für fünf Minuten tot stellten, um auf die Gefahren durch die Atomkraft
hinzuweisen, lief ebenfalls glatt über die Bühne. Für Herbert Würth vom Aktionsbündnis
Neckarwestheim steht angesichts des Erfolgs dieses Aktionstags fest: "Das ist das
Frühlingserwachen der Atomkraftgegner."
http://www.wiesbadener-kurier.de/region/rhein-main/8810593.htm
Neues Deutschland, 26.04.2010
Öko-Veteranen und ihre Enkel
20 000 Menschen zogen vor das Atomkraftwerk in Biblis
Von Hans-Gerd Öfinger, Biblis
Große Resonanz auch in Hessen: Höhepunkt des dortigen Protestmarsches war eine
Menschenkette rund um das Kraftwerksgelände.
Demonstranten in Biblis: »Panikmache der Industrie«
Foto: dpa
Über dem südhessischen Biblis strahlte an diesem Samstag die warme Frühlingssonne
ebenso wie die Gesichter der Demonstranten, die in einem kilometerlangen
Demonstrationszug zum ältesten Atomkraftwerk der Republik zogen. Die rund 20 000
Demonstranten ahnten bald, dass sie Teil einer wieder anschwellenden Protestbewegung
waren, die so viele Menschen auf die Straße bringt wie seit 20 Jahren nicht mehr.
In Biblis waren alle Altersgruppen vertreten, Öko-Veteranen aus den 1970er Jahren ebenso
wie ihre Kinder und Enkel. Viele hatten eigene Schilder und Transparente mit Aufschriften
wie »Wer Atom spaltet, spaltet die Gesellschaft« mitgebracht. Höhepunkt der Protestaktion
bildete die Umzingelung des Kraftwerksgeländes und das »Die-In«, ein symbolisches
Schausterben, zu dem sich die Demonstranten fünf Minuten stumm auf den Boden legten.
Auch SPD, Grüne und LINKE hatten viele Menschen mobilisiert und setzten sich mit ihren
Plakaten, Fahnen, symbolischen Müllfässern und Schutzanzügen kameragerecht in Szene.
Bei der Abschlusskundgebung vor dem Kraftwerk allerdings kamen keine Parteienvertreter,
sondern Sprecher regionaler Umweltgruppen und Bürgerinitiativen zu Wort. So kritisierte der
Notfallmediziner Michael Wilk den »faulen Atomkompromiss« der ehemaligen rot-grünen
Bundesregierung. Und Herbert Würth von der Initiative gegen das AKW Neckarwestheim
forderte die Zuhörer zu einem »Stehempfang« für den anstehenden Castor-Transport in das
niedersächsische Gorleben im kommenden November auf. So entstehe »Druck, an dem
keiner vorbeikommt«.
Schlaglicht auf das gesellschaftliche Kräfteverhältnis wirft auch die Tatsache, dass eine von
der Atomlobby geförderte Demonstration pro Atomstrom im vergangenen September in
Biblis allenfalls 1500 Menschen auf die Straße brachte. Dies waren überwiegend
Auszubildende aus Kraftwerken in der ganzen Republik, die auf Arbeitgeberkosten in einer
Art Betriebsausflug herangekarrt worden waren. Erhard Renz vom Bündnis AKWende lässt
diese »Panikmache« der Atomlobby mit den Arbeitsplätzen als Folge des Atomausstiegs
nicht gelten: »Bei erneuerbaren Energien entstehen bundesweit täglich 80 neue
Arbeitsplätze.«
Atomkraftgegner aus Rheinland-Pfalz warben in Biblis für eine weitere Demonstranten pro
Atomausstieg, die heute durch Koblenz ziehen wird. Da auch hier ein breites Bündnis
aufgerufen hat, erwarten die Veranstalter mindestens 2000 Teilnehmer.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/169813.oeko-veteranen-und-ihre-enkel.html
Frankfurter Rundschau, 26.04.10
Fünf Minuten Atomtod in Biblis
Tausende Demonstranten vor AKW
Von Jutta Rippegather
Demonstranten (Bild: dpa)
Biblis. Sie stehen dicht gedrängt. Nebeneinander. Schulter an Schulter. Rund vier Kilometer
misst die Menschenkette, die das Atomkraftwerk umzingeln. Sirenengeheul - und auf einen
Schlag schlägt das fröhliche bunte Spektakel um in eine düstere Szenerie. Wie Fliegen fallen
die Leute auf die Erde: Kinder, Junge, Alte. "Die gesamte SPD liegt am Boden" schreit ein
Mann in sein Handy, als er die Gruppe prominenter hessischer Genossen passiert.
Fünf Minuten dauert der Spuk. Dann erwachen die Demonstranten wieder vom symbolischen
Atomtod. Sie stehen auf, klatschen, skandieren dazu laut: "Abschalten, abschalten". Rund
um das Atomkraftwerk ist ihr Ruf zu hören.
15000 sind es laut Veranstalter, die Polizei spricht von 10000 Teilnehmern. SPD, Grüne,
Linke, DKP, Anarchos, Gewerkschafter - alle zeigen ihre eigenen Flaggen. Die meisten aber
die gelbe mit der roten Sonne. Eine solch große Demonstration hat Biblis schon lange nicht
mehr erlebt. Da waren sich Organisatoren wie Polizei einig.
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Das fünfminütige "Die In" (Schausterben), sagt Julia, hat ihr nochmal nahegebracht, warum
sie hier sind. "Ich habe mich sehr tot gefühlt", sagt die 33-Jährige und blickt auf die grauen
Betonklötze hinter dem Werkstor. "Und bedroht."
Unverständnis bei Belegschaft
Die Menschenmasse vom Samstag will das nicht länger hinnehmen. Sie fordert ein
sofortiges Abschalten des "Schrottreaktors". Weil die Frage des Endlagers nach wie vor
ungelöst ist. "Die setzen unsere Zukunft aufs Spiel", sagt Desiree (16), die mit dem Rad die
30 Kilometer hergestrampelt ist. "Weil ich es mir nie verzeihen könnte, wenn meine Kinder
Leukämie oder Krebs bekämen", sagt Jonas (22), der aus Heidelberg hierherkam. "Weil die
Atomkraft den Ausbau erneuerbarer Energien verhindert", meint Jörg (19), aus Frankfurt.
Angela (25) hat sich mit gelber und schwarzer Farbe Gesicht und Arme bemalt. "Es wird oft
vergessen, was alles schon war." Als in Tschernobyl Radioaktivität entwich, war sie gerade
einmal ein Jahr alt. Ein paar Meter weiter ruft Michael Wilk vom Arbeitskreis Umwelt
Wiesbaden ins Mikrofon: "Der Betrieb von Atomanlagen ist Körperverletzung - und das gilt
für alle Standorte!"
RWE gibt sich ob der Großdemo indes großzügig: "Jeder hat in einer Demokratie das Recht,
seine Meinung frei zu vertreten", lässt Werksleiter Hartmut Lauer in schriftlicher Form
wissen. "Deshalb dulden wir auch die Kundgebung auf unserem Gelände." Unterstützt wird
er vom stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden, der auf Anruf des RWE-Sprechers vor
das Seitentor kommt: Der Reaktor sei sicher, die Demonstration stoße bei der Belegschaft,
1000 Männer und Frauen, "teilweise auf Unverständnis". RWE sei in der Region ein großer
Arbeitgeber.
Ein Argument, das Wilk vom Arbeitskreis Umwelt auch in seiner Rede anspricht. Die Bibliser
müssten nicht um ihre Jobs bangen. Denn nach dem Abschalten müsse schließlich der
Rückbau erfolgen.
Doch die Fronten sind verhärtet. Das Grüppchen Biertrinker im Bibliser Tennisclub findet
keine netten Worte für die vielen Demonstranten, von denen die ersten schon früh um 7 Uhr
angerückt seien. "Das sind doch Bekloppte", sagt Ludwig Schmitt (74), der 25 Jahre die
Kantine des Kraftwerks beliefert hat. "Das ist die sauberste Energie, die es gibt."
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http://fr-online.de/frankfurt_und_hessen/nachrichten/hessen/2579301_Fuenf-Minuten-Atomtod-in-Biblis-Tausende-Demonstranten-vor-AKW.html
*****
Aktionsbuendnis CASTOR-Widerstand Neckarwestheim
Info-tel 07141 / 903363
http://neckarwestheim.antiatom.net