Stuttgarter Zeitung, 03.02.07
> Atomkonsens plötzlich verfassungswidrig?
EnBW zweifelt an selbst mit ausgehandeltem Ausstiegsgesetz -
Exstaatssekretär rügt Heuchelei
Vollmundig hat sich Utz Claassen seit Jahren zum Atomkonsens bekannt.
Nun, da die Laufzeit des ältesten EnBW-Meilers verlängert werden soll,
schickt er seine Juristen vor. Die argumentieren etwas anders als der
Konzernchef.
Von Andreas Müller
Utz Claassen trug mal wieder ziemlich dick auf. Es sei "ein bedeutsamer
Tag für die Republik", tönte der Chef der Energie Baden-Württemberg AG
(EnBW), als er kurz vor Weihnachten in Berlin einen Antrag zur Rettung
des Kernkraftwerks Neckarwestheim I vorstellte. Nach dem Atomkonsens
müsste der dreißig Jahre alte Reaktor im Jahr 2009 vom Netz gehen. Doch
die EnBW möchte seine Laufzeit verlängern, indem sie ihm Strommengen vom
ungleich jüngeren zweiten Block überträgt; beide Anlagen würden dann im
Jahr 2017 zeitgleich abgeschaltet.
Ein Transfer von jung auf alt - das ist eigentlich nicht im Sinne des
Atomgesetzes. Aber als Ausnahme lässt es diese Möglichkeit in Paragraf 7
ausdrücklich zu. Die Voraussetzung: das Bundesumweltministerium muss im
Einvernehmen mit dem Kanzleramt und dem Wirtschaftsministerium zustimmen.
Aus Sicht der Rechtsberatung der EnBW sei die Rechtslage "so eindeutig",
verkündete Claassen, dass Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) gar keine
andere Wahl habe, als dem Antrag stattzugeben. Dann präsentierte er den
Medienvertretern eine lange Liste von Gründen, die für die längere
Laufzeit sprächen - vom Klimaschutz über die Versorgungssicherheit bis zu
den Strompreisen.
Den Antrag selbst machte der Konzern lieber nicht publik. Denn das 23-
seitige Schreiben, das inzwischen der Stuttgarter Zeitung vorliegt, steht
in zwei zentralen Punkten in einem merkwürdigen Kontrast zu der
offiziellen Argumentation. Was die EnBW-Juristen mit Hilfe des
renommierten Stuttgarter Rechtsanwalts Klaus-Peter Dolde
zusammengeschrieben haben, klingt teilweise ganz anders als Claassens
öffentliche Verlautbarungen.
Schon seit Jahren bekennt sich der EnBW-Chef, offensiver als andere
Energiemanager, zum Atomkonsens. Der Ausstieg sei beschlossene Sache, und
dazu stehe man auch. Die Industrie könne nicht Planungssicherheit
verlangen "und dann in Frage stellen, was sie selbst mit verhandelt,
vereinbart und unterschrieben hat". Inzwischen plädiert Claassen zwar für
eine "Modernisierung" des Gesetzes. Aber der Antrag für Neckarwestheim,
darauf legt er großen Wert, liege voll im Rahmen des geltenden Rechts.
Seltsam nur: schon auf der zweiten Seite des Antrags äußert die EnBW
grundsätzliche Zweifel an der fraglichen Klausel des Atomgesetzes. Für
die Strommengenübertragung von jüngeren auf ältere Anlagen, wird da
moniert, fehlten jedwede Entscheidungskriterien. Da es sich um einen
Eingriff ins Eigentum handle, gebe es "in der Literatur schwer wiegende
Bedenken im Hinblick auf die mangelnde Bestimmtheit des Gesetzes". Würden
diese durchschlagen, dann sei das Gesetz in diesem Punkt
"verfassungswidrig und unwirksam". Die Folge: für den Transfer zwischen
den beiden Blöcken benötige man gar keine Zustimmung. Diese Frage solle
"zunächst nicht vertieft werden", da die Bundesregierung an das Gesetz
gebunden sei. Zunächst - so verkleidet man die Drohung, dass es dabei
nicht bleiben muss.
Die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit kommen erstaunlich spät. Als der
Atomkonsens vor sechs Jahren in Gesetzesform gegossen wurde, waren auf
allen Seiten Legionen von Juristen eingeschaltet; selbst einzelne
Formulierungen wurden eng mit den Stromkonzernen abgestimmt. Erst jetzt,
da es für die EnBW ernst werden soll, entdeckt sie plötzlich einen
gravierenden Schwachpunkt?
Für Rainer Baake, damals Staatssekretär bei Jürgen Trittin (beide Grüne)
im Bundesumweltministerium und heute Geschäftsführer der Deutschen
Umwelthilfe, ist das allzu durchsichtig: "Es grenzt schon an Heuchelei,
wenn ein Unternehmen eine gesetzliche Regelung, die es selber im Rahmen
des Atomkonsenses mit ausgehandelt hat, anschließend als angeblich
verfassungswidrig abtun will." Inzwischen hat die EnBW diese
Angriffsfläche wohl erkannt. Die "juristische Frage" werde in der
Fachliteratur diskutiert, sei aber "für unseren Antrag ohne Belang".
Warum wird sie dann thematisiert?
Ähnlich doppelbödig ist die Argumentation in einem zweiten Punkt. Mit der
Laufzeitverlängerung, betonte Claassen mehrfach, werde "nachhaltig die
Sicherheit erhöht". Der weitere Betrieb als Doppelblockanlage ermögliche
wertvolle Synergien - zum Beispiel durch die geballte Erfahrung des
Personals - und sei "sicherheitstechnisch von großem Vorteil". Im Antrag
wird das ganz anders akzentuiert. Maßgeblich für die Entscheidung des
Umweltministeriums, behauptet die EnBW, sei der "betriebswirtschaftliche
und volkswirtschaftliche Nutzen"; Sicherheitsfragen dürften dabei keine
Rolle spielen.
Die Begründung, kurz gefasst: nach dem Atomgesetz dürften in Deutschland
ohnehin nur sichere Reaktoren laufen; eine Differenzierung zwischen
besonders sicheren und weniger sicheren Anlagen sei darin nicht
vorgesehen. Zudem habe der Bund gar nicht die Kompetenz, Kernkraftwerke
sicherheitstechnisch zu beurteilen; das sei Sache der Länder. Das Fazit
der EnBW: für eine vergleichende Sicherheitsanalyse der beiden Blöcke,
wie sie das Ressort Gabriels mehrfach gefordert habe, gebe es keine
Grundlage. Man werde sie daher auch nicht durchführen.
Den Grünen-Abgeordneten Franz Untersteller wundert das nicht. Die EnBW
flüchte sich in "juristische Spitzfindigkeiten", weil sie den Vergleich
scheuen müsse, sagt der Fraktionsvize und Energiexperte: In puncto
Sicherheit sei der Unterschied zwischen den beiden Blöcken "so groß wie
zwischen einem VW Käfer und einem Mercedes E-Klasse". Auch der
Exstaatssekretär Baake glaubt nicht, dass die Karlsruher mit ihrer
Weigerung durchkommen: "Der Bundesumweltminister darf nicht nur, er muss
sogar Sicherheitsfragen bei der Prüfung des Antrags stellen und
beantworten." Sonst würde die Atomaufsicht "ihre originärste Pflicht
verletzen".
Aus dem Ministerium selbst gibt es zu alldem keine Auskunft. Man prüfe
den Antrag der EnBW und einen gleichgelagerten der RWE "auf der Basis des
geltenden Atomgesetzes", heißt es lapidar. Indirekt hat der Hausherr
Gabriel aber schon einmal klar gemacht, dass er sich dabei keine Fristen
setzen lässt. RWE hatte die Zustimmung, um möglichst bald
Planungssicherheit zu haben, bis Ende 2006 erbeten. Das Datum verstrich
ungenutzt. Die EnBW lässt dem Minister deutlich mehr Zeit. Man brauche
"bis Anfang 2008 abschließende Klarheit".
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